»Na, kurz und schmerzlos«, war meine Antwort auf die Frage unserer Freundin, was ich denn nun dazu sagen würde. Eine Minute vorher hatte das Telefon geklingelt und wie außer Puste, hatte sie mir mitgeteilt, dass unser Ex-Vermieter gestorben wäre. Einfach so im Supermarkt in der Obstabteilung. Umgefallen, einfach so. Nun würde er im Lager des Ladens liegen, tot, und nach Ladenschluss vom Bestatter abgeholt werden.
So kann der Tod sein. Es passt irgendwie nicht, dass man über einen Mittsiebziger schreibt, er wäre mitten aus dem Leben gerissen worden, aber wenn es auf einen zutreffen würde, dann auf unseren Ex-Vermieter – Klaus. Ich kennen keinen Mittsiebziger, der je so viele Pläne und auch Flausen im Kopf gehabt hätte. Während andere in seinem Alter vage für morgen planen, hatte er Pläne für Jahre gehabt. Natürlich hat er in den letzten Jahren einige Kompromisse machen müssen, das Alter hatte auch vor ihm nicht Halt gemacht. Aber wie alles, was ihm nicht passte, kämpfte er dagegen an.
Wir lernten ihn 2001 kennen. In einer lokalen Zeitung hatten wir eine kleine Anzeige aufgesetzt, in der wir nach einem Einfamilienhaus zur Miete suchten. Was er zu bieten hatte, das gab er uns schon auf dem Anrufbeantworter zu verstehen, wäre nicht das, was wir suchen würden – aber es es wäre noch viel schöner. Wir könnten uns das ja mal anschauen. Das, was hier jetzt in so klaren Worten steht, versuchte er in drei Minuten in nicht so klaren, sich immer widersprechenden Worten zu vermitteln. Es war unser Glück, dass wir uns haben davon nicht abschrecken lassen. Denn wir sahen eine wunderbare Wohnung an einem wunderbaren Ort mit offenbar wunderbaren Vermietern. Da störte es nicht, dass Susann später Meinung war, wir dürften im Windfang nichts hinstellen, weil er dort regelmäßig sein Boot durchtragen würde. Auch kam er während der Verhandlungen über den Mietvertrag auf die verwegene Idee, gleich zwei Fliegen mit einer Fliegen mit einer Klappe zu erwischen, in dem er uns eine Mindest-Mietzeit hineinschrieb, die aber gleichzeitig mit einer Probezeit verbinden wollte – für den Fall, dass es zwischen uns nicht stimmen würde.
Das war die ganze Zeit sein Motto gewesen: Er ist der Besitzer und Vermieter der Wohnung, aber er suchte keine Mieter sondern Nachbarn und wir waren nicht nur Nachbarn, sondern gute Nachbarn, die die Zeit in der Wohnung die allermeiste Zeit genossen hatten.
Wir feierten zusammen das Osterfeuer, entweder im Garten am See oder auf seinem Grundstück in der Nähe. Wir feierten den kleinen Sieg, den wir glaubten über einen verrückt gewordenen kleinkriminellen Restaurantbetreiber errungen zu haben, in einem schönen Restaurant und saßen hin und wieder bei Wein und Käse oder einfach nur so beieinander, plauschten über dieses und jenes und so oft er in Eile war, weil er dieses oder jenes zu erledigen hatte, so blieb er doch in den meisten Fällen stehen und richtete ein persönliches Wort an einen.
Susann war in seine Fischteiche so verliebt, dass ich hätte eifersüchtig werden können. Sie half beim Abfischen, brachte die Lämmer seiner Schafe mit zur Welt und bewirtschaftete eine Zeit lang ein kleines Grundstück seiner Teich-Anlagen als Garten.
Es brauchte so seine Zeit, bis er sich an mich gewöhnt hatte. Da vorher in der Wohnung ein Doktor der Biologie mit seiner Frau gewohnt hatte, den er immer mit »Herr Doktor« ansprach, wurde das auf mich auch übertragen, es braucht seine Zeit, bis er sich das »Dr. Hahn« abgewöhnt hatte, so lang fast, dass ich mich schon dran gewöhnt hatte. Na, wie duzten uns dann auch bald.
Leider lernten wir auch einen anderen Klaus kennen, der sich mit zunehmender Zeit änderte. Er steckte viel Geld in seine Kleinkriege in Behörden, veröffentlichte Bücher und Dokumentensammlungen und mochte er in hin und wieder auch Recht haben, so war er genauso oft wahrscheinlich im Unrecht – ich hatte oft das Gefühl, dass er versuchte, das Recht in seinem Sinne auszulegen und ihm gar nicht die Idee kam, er könnte im Unrecht sein. Klaus ging gegen die Ungerechtigkeiten, die echten und die vermeintlichen, immer mit voller Energie an und verrannte sich so.
Das Geld wäre in anderen Unternehmungen viel besser angelegt: Der Mann hatte sich in den letzten Jahren keine Zeit mehr für Urlaub genommen. Er hätte – das käme mir so in den Sinn – in der Weltgeschichte herumreisen können, sich eine schöne Zeit machen können. Mir tut es für ihn, um diese verlorene – ja, vergeudete – Zeit leid.
Er hatte immer viel zu erzählen, vielleicht hätte er es aufschreiben und veröffentlichen lassen sollen. Ich habe ihm, wenn er von seinen Erlebnissen erzählte, gern zu gehört. Oft hatte er so viel zu erzählen, dass es schwierig war, bei ihm zu Wort zu kommen und sich Gehör zu verschaffen. Man schaffte es manchmal, aber es war mühsam und brauchte manchmal Umwege. Es gibt Menschen, die einem auf einen Bericht aus New York oder meinetwegen auch Paris, antworten: »Als wir damals an der Mosel waren…« Auch schön und gewiss auch interessant, allerdings nicht zum Thema passend. Aber ich hatte mich alsbald dran gewöhnt und mich auf das Zuhören verlegt, irgendwann kam immer der Zeitpunkt, an dem Klaus sich in seinem Sessel zurücklehnte, einen Zug seiner Pfeife nahm und verschmitzt fragte: »Und bei Dir, Oliver?«
Vor drei Jahren – da hatte er die siebzig schon überschritten – gründete er noch eine Firma, die sich mit Krebszucht beschäftigte. Die letzten Aktivitäten, die ich nur noch fernmündlich zu hören bekam, beschäftigten sich mit Fischverkauf an einer Ladentheke an seinen Fischteichen (verwegen und ganz gewiss nicht erlaubt). Und ja: Eine Stiftung hatte er auch gegründet.
Wenn Klaus ein Motto gehabt haben sollte, dann wäre es gewiss »Es gibt immer etwas zu tun und ich tue das.«
Ich kenne wenig Menschen, die so viele Ecke und Kanten hatten wie Klaus, und die ich trotzdem gemocht habe.