Man verklärt so manche Sache im Alter. Echt wahr! Will ich also über den Mauerfall reden, so darf ich nicht vergessen, dass sich dieser unvergesslichen Zeit auch gleich Wochen Bronchitis anschlossen. Ist wie mit jeder guten durchzechten Nacht: Der Kater kommt erst immer danach.
Also, wie war das bei mir: Ich musste arbeiten. Nachtschicht. Beginn um 22 Uhr.
Da liefen im Radio schon die ersten Berichte über den Mauerfall. Unglaublich, dachten wir, faszinierend. Ich bin ziemlich überzeugt, dass bei uns RIAS2 lief. Auch so ein Wendeopfer.
Meine Arbeit: dröge. Ich hatte ein Buch oder eine Zeitschrift zu umbrechen und war schon nach anderthalb Stunden fertig. Vielleicht nicht fertig mit dem Buch oder der Zeitschrift, aber ich hatte das Soll erfüllt. Und so unglaublich das klingen mag: Eine Lektion in Solidarität hatte ich noch in der Lehrzeit bekommen: “Mach nicht so schnell, Du versaust den schwächeren Kollegen das Soll und die haben dann Probleme.” Dann hat man sich ein wenig zurückgenommen.
An dem Abend war es hilfreich gewesen, denn meine Idee war gewesen, dass wir ja mal gucken könnten, was da so los war. Mein Kollege war ein Jahr älter als ich, und ich dachte er wäre locker genug dafür. Aber er hatte seinen Soll noch nicht erfüllt. Da griff ich ihm ein wenig unter die Arme. Der dritte Kollege in der Schicht war ein ein “von”, der ziemlich dick war, ein Gehörgerät trug und uns immer mit fantastischen Geschichten zu unterhalten vermochte, die wir ihm allesamt nicht glaubten. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, so dass ich gestehen muss, dass ich die Namen der Beiden vergessen habe. Schrecklich.
Um zwei Uhr machten wir uns aus dem Staub – vier Stunden vor Schichtende. Das es ganz, ganz selten. Eigentlich machten wir das nur, wenn wir wussten, dass der Abteilungschef im Urlaub war. Hr. Friedemann – an den Namen kann ich mich immerhin erinnern. Liegt wohl an der Erzählung von Mann, dass ich den Namen nie aus meinem Gedächtnis herausbekommen habe. “Der kleine Herr Friedemann”. In solch einer Nacht konnte man ja wohl man eine Ausnahme machen. Ich stiefelte noch einmal kurz nach Hause, holt das bisschen Westgeld, was ich hatte, legte meinen Eltern den sicher nicht so beruhigenden Zettel in, dass ich mal kurz in West-Berlin sei und marschierte zum Bassinplatz. (Erwähnte ich, dass die Geschichte in Potsdam spielte? Nein. Soll hiermit nachgeholt sein.) Von Zentrum-Ost aus sind das vielleicht dreißig Minuten gewesen.
Ich verdiente damals wirklich gutes Geld: Das kam zum einen durch die Schicht-Arbeit und zum anderen dadurch, dass ich privat nebenbei etwas verdiente (heißt, während der Arbeitszeit, was wiederum von der Firma toleriert, man kann sagen, gefördert wurde). Für Ost-Verhältnisse und für mein Alter schwamm ich in Geld, dass sollte nie wieder so kommen und seit dem ich ein Auto habe, kenne ich das Gefühl gar nicht mehr (also seit fünfzehn Jahren). Um mal wieder auf den Punkt zu kommen: Der ein wenig ältere Kerl hatte sich mit mir am Bassinplatz verabredet und von dort wollten wir mit dem Taxi in Richtung West-Berlin fahren. Eine lustige Idee, die eine gewisse Naivität beweist, denn mit dem Taxi in der Nacht zu bekommen, war schon mal Glückssache damals und mit diesem dann auch noch nach West-Berlin zu fahren, das war pures Science Fiction. Kurzum: Der Plan der Mauerüberwindung klappt nicht. Es fehlte an einem Taxi.
Wir beschlossen, zu trampen. Vielleicht sollte man sich das mal vor Augen halten: Es war zwei Uhr nachts, es gab nicht so viele Autos und die fuhren mal schon überhaupt nichts nachts. Potsdam war ruhig wie ein Friedhof um diese Zeit. Wer also glaubt, dass da das gleiche los war, wie in Berlin, der hat sich schwer getäuscht. Die Potsdamer haben erst einmal ausgeschlafen und sind zur Arbeit gegangen. Als sie von der Arbeit kamen, ein wenig überspitzt jetzt, aber sicher nicht ganz falsch, hatte die BVG schon Buslinien Richtung Wannsee eingerichtet, um die Potsdamer zum Begrüßungsgeld zu transportieren.
Wir waren gerade an der Humboldt-Brücke, als ein Trabbi vorbei fuhr. Unsere Hände waren ganz weit draußen, obwohl sie das erste Mal das Tramper-Mitnahme-Zeichen übten. Und er hielt an: Ein Mann, Anfang dreißig, fragte, wo wir hin wollten. “Nach drüben.” “Ahh, ich wollte auch gerade mal zum Grenzübergang und gucken, ob das stimmt.” Das war praktisch. Wir kamen zum Grenzübergang, der für uns damals Drewitz hieß, und waren damit schon fast im Berlin. Der gute Mann, sah sich bestätigt, als er die ganzen Trabbis und Wartburgs sah, die Einlass in den Westen begehrte und durchkamen, wir stiegen aus und machten uns auf den Weg in Richtung West-Berlin.
Die Grenzer waren gut gelaunt, aber nicht so gut gelaunt, dass sie bereit waren, jede Regel zu brechen. “Nee, so geht das nicht. Das ist ein Grenzübergang für Autos. Da können keine Fußgänger rüber.” Das war vielleicht unser Glück, denn nachdem man dem Grenzübergang überwunden hat, steht man ja mitnichten mitten in der Stadt sondern irgendwo im Grunewald. Weit weg von allem. An dem Abend war es aber kein Problem einen Autofahrer zu finden, der bereit war, einen mitzunehmen.
Wir landeten letztlich am Kuhdamm, wo fast alle landeten. Marschierten durch die halbe Stadt (war ja sowieso nur eine halbe Stadt, also durch die Viertel-Stadt), kamen in ein Zeitschriften-Laden, wo mir ein Mann – man glaubt es kaum! – fünf Mark schenkte und wir auch noch irgend etwas anderes umsonst bekamen. Es war unglaublich, alle waren so glücklich. Und es war saukalt.
Im Hinterkopf war aber immer der Gedanke: “Kommen wir auch zurück!” Ich war gegen zehn Uhr zu Hause und viel völlig erschöpft ins Bett. Man kann sagen, was man will, es war eine großartige Nacht, mit einer Stimmung, der Zusammengehörigkeit und Freude, wie ich sie später nie wieder erlebt habe. Das kann uns keiner nehmen und wir erinnern uns jetzt anlässlich des Jubiläums daran. Sollten wir aber viel häufiger und einfach Lächeln, dass wir soviel Glück hatten.
Denn das hatten wir wirklich!