Unter den Damen von Sokolov befand sich eine, die erzählte mir, dass sie für einen Anfahrtsweg von weniger als dreißig Kilometern über eine Stunde benötigt. Unglaublich, denn wir redeten über eine Anfahrt mit dem Auto. Auf Dauer war das wohl nichts, denn sie verließ das Unternehmen und hatte wohl eine Stelle gefunden, die sich schneller erreichen ließ.
Ich konnte mir das damals gar nicht vorstellen, habe mittlerweile aber einen Eindruck bekommen, warum das so ist. Es gibt hier reizende Dörfer die durch wunderschöne Straßen miteinander verbunden sind, deren Makel jedoch die Straßenqualität ist. Das Navi zeigt allermeistens als Höchstgeschwindigkeit 90 km/h an, so dass ich also keine Schilder übersehen habe. Das Tacho meines Wagens steht aber irgendwo auf vierzig, weil ich nicht bereit die Struktur des Wagens freiwillig zu zerstören und im Hinterkopf auch noch unsere Rücken und Gesäß habe. Nur Wahnsinnige würden auf solchen Straßen schneller fahren.
Ein weiterer Aspekt, der nicht zu verachten ist: Leitplanken haben auf solchen Landstraßen Seltenheitswert. Die Aufmerksamkeit wird manchmal ein wenig getrübt, denn man fährt über langgestreckte Hochebenen, durch malerische Wiesen und Felder, in der Ferne stehen ein paar Kühe. Dann kommt eine Kurve und ein wenig unerwartet geht über Serpentinen abwärts ins Tal.
Heute Morgen standen wir vor der Frage, was wir denn machen wollen. Mit gutem Wetter war nicht zu rechnen. Die Beste aller Ehefrauen ist ein begeisterter Mitmacher. Vor die Aufgabe gestellt, den heutigen Tag zu gestalten, kam von ihr als Vorschlag »Schmetterlingshaus« und »Spiegelkabinett«. Ersteres hat Zoo-Qualität und das lasse ich mir gefallen. Wir sind gestern schon an dem Haus vorbeigefahren, mehr als eine halbe Stunde verbringt man dort aber wohl nicht – schon gar nicht bei kühlem, regnerischen Wetter. Zum Thema »Spiegelkabinett« fiel mir nicht mehr als ein »Nein!« ein. Man hat’s schon nicht leicht mit mir. Wählerisch bin ich auch noch.
Hier kommt dann die Concierge des Hotels ins Spiel. Wenn sich jemand auskennt, dann doch die Damen und Herren von der Rezeption. Unsere Rezeptionistin spielte ihre ganze Überlegenheit aus, in dem sie uns eine Karte der Umgebung in die Hand drückte, in der die Attraktionen aufgezeichnet und nummeriert zu finden waren. Sie an, da war noch ein Schloss, das wir nicht besichtigt hatten. Wir fuhren nach Schloss Kynžvart (Königswart), das früher der Familie Metternich gehörte. Wenn man von Cheb aus kommt, fährt man eine gut ausgebaute schmale Allee und sieht dann das Schloss schon von Weitem. Für den Obolus von umgerechnet 1,50 Euro darf man dort parken und kann um das Schloss herumrennen und den Park besichtigen. Wir sind da ziemlich ungeniert über das Grün marschiert, das zu einem Golf-Platz gehört. Vermutlich darf man das nicht, aber es waren keine Schilder zu sehen, die es ausdrücklich verbieten und wir, Rebellen wie wir sind, haben uns vorsichtig ganz am Rand herumgedrückt. Die Beste aller Ehefrauen darf das in ihrer Vita als den (Erfolgs)Moment verbuchen, wo sie mich auf einen Golfplatz bekommen hat.
In das Schloss kommt man nur mit Führung. Die Führungen werden in tschechischer Sprache durchgeführt, uns bot man einen Audio-Guide an. Herumstiefeln auf eigene Faust ist nicht vorgesehen.
»Gehen Sie hoch in den ersten Stock und dann drücken Sie auf 20«, trichterte uns die Dame ein, die die Audio-Guides aushändigte. Trichtern ist das richtige Wort, denn sie wiederholte es mehrmals. Als problematisch sollte sich herausstellen, dass wir oben auf »20« drückten, der Text aber romanhafte Form hatte. Die Führerin der Gruppe hatte ihren tschechischen Text schon fertig erzählt, da war unsere Erzählerin noch fleißig am Berichten, was an diesem Schloss bemerkenswert war. Es nahm kein Ende, aber es war halt auch verdammt interessant, so dass ich nicht auf Stop drücken wollte. Außerdem weiß man ja nie, ob am Ende einer solchen Veranstaltung nicht noch ein Quiz oder eine Prüfung stattfindet. Ob man im Tschechischen schneller spricht und die Führerin deshalb schneller fertig war oder ob die Gestalter unseres Audio-Guides sich gedacht hatten: »Den Deutschen zeigen wir es mal, die sollen sich nachher nicht beschweren, es wäre zu wenig erzählt worden!« – wir wissen es nicht.
Es war ausnahmslos in jedem Raum so, dass wir mit unseren Apparaten am Ohr noch rumstanden und umherschauten, während der Rest der Gruppe fertig zum Weiterziehen war.
Wir trafen in dem Schloss auf einen alten Bekannten wieder: Karl Huss. Er hatte sich in jungen Jahren mit einer zwanzig Jahren älteren Frau verheiratet, deren Eltern überhaupt gar nicht glücklich waren, schließlich war er Scharfrichter und gesellschaftlich geächtet. Aber ihre Verbote nutzten nichts, die Frau wollte den Karl haben – allerdings dürfte sich schon die Frage stellen, warum sie in den Dreißigern noch unverheiratet war. Die Ehe blieb kinderlos und irgendwann wurde sie auch unglücklich. Er hatte seine Sammelei und sie kehrte in ihre alten gesellschaftlichen Kreise zurück. Nach dem Tod seiner Frau, hatte er seine Sammlung und sich an den Fürsten Metternich vermacht und war auf das Schloss gezogen. Es hörte sich nach einem glücklichen Leben an.
Seine Sammlung sollte Grundstock einer Kuriositäten-Sammlung werden, wie man sie in Europa zu der Zeit noch nicht oft antraf. Sie stellte einen Vorläufer der späteren Museumskultur dar. Die Sammlung war so bemerkenswert, dass Besucher des nahen Marienbad sich verpflichtet fühlten, dieses öffentlich zugängliche Kabinett zu besuchen. Ich glaube, dass öffentlich zugänglich nicht ganz zutreffend ist und Hinz und Kunz nun bei Herrn von Metternich auftauchten, um die Kuriositäten zu betrachten. Man musste schon wer sein, also sich einen Kuraufenthalt in Marienbad leisten können, um die Sammlung betrachten zu dürfen.
Im Museum ist nun ein Auszug aus dem Gästebuch aus Cheb zu sehen, in dem sich Goethe verewigt hatte. Außerdem auch ein paar seiner Folter- und Richt-Werkzeuge. Er schien davon eine Menge zu haben, schließlich gab es die auch in Seeburg zu sehen.
Was die Kuriositäten angeht, da waren schon einige sehr verrückte Objekte dabei. Die Zusammenstellung erinnerte mich an Snowhill Manor, eine völlig verquere Sammlung, die wir vor zwei Jahren in England sahen. Dort war schon der schiere Umfang der Wahnsinn gewesen und hinzu kam das Gefühl der Unordnung sowie die Frage, warum DAS von jemandem gesammelt wurde. Hier waren es wirklich sehr kuriose Dinge. Eher völkerkundlich angehaucht und exotisch -es gab beispielsweise zwei Sarkophage mit echten Mumien zu besichtigen (also, dass die Mumien da drin sind, das muss man einfach glauben, das zeigen sie nicht).
Um das Ensemble abzurunden, gibt es noch eine beachtliche Bibliothek und ein Verwahrraum für naturgeschichtliche Objekte. Zufrieden marschierten wir aus dem Museum, gaben unsere Guide zurück und ließen bei leichtem Regen unsere Köpfe im Park abkühlen.
Nach so einem Treffer konnten wir gar nicht anders also nochmals die Touri-Karte zu konsultieren. Meine erste Wahl am Morgen war eine Mine gewesen, davon nahmen wir Abstand. Nicht allzu weit entfernt, so sah es aus, sollte es ein zweites Schloss geben – Bečov nad Teplou -, das war unsere Wahl. Wieder fuhren durch Wälder und Felder. Selten kam uns ein Auto entgegen und wenn, dann war es ein Laster. Hin und wieder ein hübsches Örtchen, mit kleinen Hotels und Pensionen. Die Restaurants hatten wir im Blick, aber letztlich entschieden wir uns, bis zum Ziel durchzufahren. Vielleicht wäre die Auswahl dort etwas größer.
War sie nicht. Erstmal hieß es wieder einen Parkplatz zu finden. Wir fanden einen vor einer Metzgerei und in der investierten wir unser Geld in zwei Würstchen – allerdings nur, um Münzen für den Parkautomaten zu haben. Nachdem das erledigt war, ging es in die benachbarten Restaurants. Aber nur in einem fanden wir auch Platz, das andere war restlos ausgelastet. An der Stelle kann ich es gut zugeben: Ich hatte nun drei Tage hintereinander Knödel mit Lendenbraten. Vor allem wegen der Soße! Ich vermute mal, dass mein Bedarf für das nächste Jahr gedeckt ist, zumal ich mich wirklich nicht erinnern kann, wann ich in Deutschland das letzte Mal einen Braten in einem Restaurant geordert hätte.
Nachdem wir auch hier – wie gestern – unser Essen in Rekordzeit entgegen nehmen durften, machten wir uns auf dem Weg zum Schloss. Auch hier gab es Zutritt nur, wenn man sich einer Führung anschloss. Was wir denn sehen wollen, wurden wir gefragt. Da eine Vorbereitung auf diesen »Termin« nicht stattgefunden hatte, waren wir mit der Frage restlos überfordert. »Was würden Sie uns den empfehlen?« schien mir eine angemessene Reaktion zu sein und die Ticketverkäuferin meinte: »Der Maurusschrein.« Dann sollte es das werden. Die Alternative wäre das Schlossinterieur gewesen und so etwas kennt man ja zur Genüge. Ein Schrein zu sehen, das würde geheimnisvoll sein.
Interessant finde ich übrigens die Taktik, dass sprachkundige Personal beim Verkauf von Eintrittskarten einzusetzen. Für die Führung durch die Burg/Schloss/»Was auch immer« dann aber Personal einzusetzen, welches jung, hübsch oder zumindest nett anzusehen ist; dafür aber außer der eigenen Sprache keine andere zu sprechen bereit ist. Ich kann hier für russische und deutsche Besucher sprechen, dass Antworten in englischer Sprache sehr willkommen gewesen wären. Diesmal konnten andere Teilnehmer der Gruppe englisch, die dann hin- und herübersetzten. Zweiter Fun-Fact: Ich habe heute gerade gelesen, dass man als Polizeibeamter in NRW eine gewisse Mindestgröße haben muss. Wäre bei dem Burg-Personal von Bečov nad Teplou vielleicht auch eine gute Idee. Unsere junge Dame kam mit dem Schlüssel kaum ans Türschloss heran. Was aber natürlich auch etwas Lustiges hatte.
Es ging in unserer Führung, wie schon erwähnt, um den St.-Maurus-Schrein, der als Reliquie gilt und »Bestandteile« von dem heiligen Märtyrer Maurus, Timotheus und Apollinaris, ich dachte das wäre ein Mineralwasser, sowie – wohl ein Höhepunkt – vom heiligen Johannes (der Täufer) enthalten soll. Man hatte den Inhalt geprüft und diverse Knochen gefunden, die DNA untersucht und herausgefunden, dass sich unter den Knochen auch solche von Frauen befanden, sowie Tierknochen. Als Ungläubiger bin ich in dieser Hinsicht skeptisch und glaube, in so einen Mini-Sarg kann man alles möglich reinlegen. Was wohl auch getan wurde. Allerdings ist die Geschichte, wie die Tschechen an den Schrein gekommen sind, kriminalistisch sehr interessant und der Prozess der Restaurierung wird sehr anschaulich dargestellt. Wir hatten einen Hefter in die Hand gedrückt bekommen, den ich vor der Führung schon studiert hatte und mich so bei der Führung auf die Objekte konzentrieren konnte.
Der Schrein selbst wird in einem verdunkelten Raum ausgestellt. Bevor man den betritt, soll man sein Handy in den Flugmodus schalten: Den Tschechen wurde es gesagt, die anderen hätten es erraten können, weil plötzlich alle Sprachkundigen hektisch an ihren Smartphones herumspielten und sie dann wieder wegsteckten. Eine Dame aus der Gruppe machte für uns ein Flugzeug nach, da wussten wir, was gemeint war.
Fotografien war leider nicht erlaubt. So muss man mir glauben, dass es sich lohnt und die Ticketverkäuferin recht hatte.
Von dem eigentlichen Schloss bzw. der Burg und ihrer Anlage sieht man sehr wenig, was ich schade fand.
Wir suchten den örtlichen Mini-Markt auf, um uns mit Getränken zu versorgen. Ein junger Mann, eindeutig asiatischer Abstammung, rannte mit Kopfhörern und irgendwelchen Kartons rum. Ehrlich gesagt, hielt ich ihn für einen Kunden. Er grüßte mich, was ich schon mal merkwürdig fand. Auf tschechisch, das bekomme ich gerade mit dem Zurückgrüßen noch hin. An der Kasse stand allerdings auch ein Asiate, wir können davon ausgehen, dass es sich um einen Vietnamesen handelt, der die Waren abscannte und mir den Betrag nannte. »Schatz, kannst Du mir mein Geld geben?« Die Beste aller Ehefrauen ist unser Geldtransporter und hat in den Sommermonaten die Aufgabe, meine Geldbörse in ihrer Handtasche zu transportieren. Sollte mal etwas passieren – also ich der Frau verlustig gehen oder die Handtasche geklaut werden – stehen wir gleich vor einem ganz großen Desaster. Also in ersterem Falle nur ich, aber im letzteren Fall würde es uns gemeinsam schlecht ergehen.
»Ich habe Dein Geld nicht.«
»Ohh, dann ist es im Auto.«, was ich dem netten Herren an der Kasse auf englisch mitteilte und verschwand, um unsere Schuld begleichen zu können. Zurück sagte er mir den Preis, diesmal auf Deutsch.
»Sie sprechen Deutsch?« Er schaute mich an und zuckte nur schicksalsergeben mit den Schultern, ohne es weiter zu kommentieren. »Vierhundertzehn Kronen zurück.«
Wenn ich noch einen Vorschlag für die Hersteller von Navigationssoftware geben darf: Ich wünsche mir einen Flexible Navigation Mode. Sobald ich mich von einer Strecke entferne, die gerade gültig ist, sollte das Navi-System erkennen, dass es eine neue Route auszurechnen hatte. Dieses »Bitte umkehren«-Geschrei kann es sich dann ersparen, denn ich will – wenn ich diesen Modus gewählt habe – die gerade genutzt Straße wirklich verlassen. Entweder, weil sie mir nicht gefällt, oder weil es ein Hindernis gibt. Eigentlich kann das doch nicht so schwer sein, oder?
Das letzte Abendbrot in Franzensbad haben wir nun eingenommen. Wir wählten das Restaurant vor der Türe, die Fischerbastei. Als wir hineinkamen, war der Kellner schon am Staubsaugen gewesen. Entweder waren wir die ersten Gäste oder die letzten. Mit einem Wink holte er uns zu sich herein, bereit ein Abendbrot zu servieren und wir bekamen einen Premium-Platz vor einem Aquarium, was der Besten aller Ehefrauen sehr gut gefiel. Sie aß den Fischen im Aquarium dann ein Karpfen-Filet vor, wobei sie bevor das Essen kam ein schlechtes Gewissen hatte – das legte sich nach dem ersten Bissen. Die Fische im Aquarium waren – soweit ich das beobachten konnte – an unseren Tisch-Angelegenheiten auch nicht großartig interessiert.
Im Hintergrund duldete Modern Talking und Karel Gott sang auf tschechisch »Forever Young« – eine sehr gelungene Interpretation. Der Kellner übersetzte uns seine Tattoos – aus dem Chinesischen. Es hatte mit Musik und Tanz zu tun. Nun heißt es Kräfte sammeln, morgen geht es in Richtung Potsdam und abends besuchen wir das Ólafur-Arnalds-Konzert, worauf ich mich schon riesig freue. Der letzte Absatz hat schon einen sehr musikalischen Anstrich, nicht wahr?