Frühes Erscheinen sichert gute Plätze, heißt es. Die offizielle Öffnungszeit von Hanbury Hall war gestern 10.30 Uhr. Wir hatten den Ort aus zwei sehr profanen Gründen gewählt: Es gab einen Garten und Park, in dem wir uns bewegen konnten, und wir hatten nicht allzu lang zu warten. Denn wir waren schon um Viertel vor zehn Uhr unterwegs. Die meisten Objekt des National Trust machten erst um 11.00 Uhr oder gar um 13.00 Uhr auf. Es kam uns also sehr entgegen.
Auf der Fahrt zum gewählten Ziel hatten wir im Auto eine recht kurze feministische Phase gehabt und uns gefragt, warum es „Herrenhaus“ und nicht anders heißt. Wir kamen recht schnell zu dem Schluss, dass „Frauenhaus“ eine negative Konnotation hat und man hier keine weiteren Kämpfe austragen sollte. Die Suche nach Alternativen führte nicht zum Ziel, weshalb wir uns darauf konzentrieren, Gedanken über den vor uns fahrenden Cabrio-Oldtimer zu machen, der nicht nur durch sein kräftiges Rot auffiel. Auch seine gefällige Form, die Tatsache, dass der Zopf der Fahrerin fröhlich im Wind herumhüpfte, und die Erkenntnis, dass wir im eindeutig komfortableren Fahrzeug saßen, bereitete uns einige Freude.
Hanbury Hall bot zwei Anfahrten – eine für Autos und eine für Busse. Als Autofahrer kann man gewiss ohne Probleme auch die Einfahrt für Busse nutzen, man kommt auf den gleichen Parkplatz. Folgt man den ausgeschilderten Weg für Autos, wählt man eine ungleich herrschaftlichere Annäherung an das Objekt des Interesses, denn man fährt recht nah an dem Herrenhaus vorbei. Hätte uns nicht eine schnöde Kette den Weg versperrt, hätten wir auch direkt vorfahren können. So blieb uns nur der Parkplatz, auf dem wir zwar nicht die ersten waren, aber wohl die erste Gäste. Die restlichen Fahrzeuge gehörten den Angestellten und dem Personal von Hanbury Hall.
Bei den meisten Anwesen des National Trust ist es so, dass man durch ein Begrüßungshäuschen muss, in denen man sein Obolus zu begleichen oder man seinen National Trust-Pass vorzuweisen hat. Hier war es so, dass man vor dem Häuschen noch eine kleine Wiese installiert hatte, die mit der gleichen Saat-Mischung bestückt war, wie wir sie schon in Sissinghurst sahen – der Effekt war der selbe wie in Sissinghurst: wir waren ganz hin und weg über die Vielfalt an Blumen und Kräutern. Die Begeisterung bemerkte ein Mann, der sogleich das Gespräch suchte und der Besten aller Ehefrauen erzählte, dass es dafür eine spezielle Saat-Mischung gäbe und dies quasi eine Show-Wiese sei. Er kehrte nach kurzer Zeit wieder zurück und zeigte uns nun auch, wie die Mischung heißt und mögliche Bezugsquellen. Meine bessere Hälfte begann sogleich mit Plänen, wie man unseren Garten zu Hause umgestalten könne, und kalkulierte wohl schon, wie viele Kilo man von dieser Mischung benötigen wird.
Um kurz vor halb zehn Uhr äußerte ich schon mal meine touristische Ungeduld und rüttelte ein wenig an der Tür des Begrüßungszentrums. Ein älterer Mann kam und erklärte mir freundlich, dass ich mich noch ein wenig gedulden müsse. Was sie jetzt in den fünf Minuten noch gemacht haben, weiß ich nicht, aber er nahm mich anschließend persönlich in Empfang und äußerte sein Entzücken darüber, dass wir mit dem Touring Pass des National Trusts aufgetaucht waren. Dem folgten, wie immer, ausführliche Erklärungen zum Areal und dessen, was man so tun könne. Dann folgte eine schwierige Frage: „Wollen Sie an einer Führung durch das Haus teilnehmen?“, mit der Erklärung, dass diese nur bis 13.00 Uhr angeboten werden würden, danach würde das Haus für jedermann geöffnet. Das war insofern eine knifflige Frage, da wir eigentlich nur Gärten besuchen wollten. Susanne hat vorab erklärt, dass es ihr schwerfallen würde, die ganzen Herrenhäuser noch auseinander zu halten. Nun kam dieser Herr mit dem touristischen Äquivalent einer Versuchung. Wir bissen in den Apfel, denn es schien ein ziemlich exklusives Unterfangen zu sein.
Aber erst spazierten wir im Garten herum. Man kann es nur genießen, so früh an einem Ort zu sein und obwohl es ein stinknormaler Sonntag war, waren wir fast allein unterwegs. Jede Gartenecke, die wir vor elf Uhr besuchten, hatten wir erst einmal für uns ganz allein. Allerdings kamen wir in der halben Stunde nicht sehr weit.
Im Herrenhaus wurden wir von einem anderen netten Herren begrüsst und von einer reilenden Dame aufgefordert, uns hinsetzen, wo wir wollten. Zumindest im Empfangssaal war das so.
Am Vortag hatten wir beim Eintritt in das Herrenhaus des Charlecot Park das Gefühl, dass wir besser fernbleiben sollten – hier war es ganz anders. Den Besitzern war es wohl sehr wichtig, das Gefühl zu vermitteln, dass ein jeder willkommen sein. Warme Holztöne dominieren den Raum und wendet man dann seinen Blick zur Treppe, so sieht man ein riesiges Wandgemälde. Die Motive sind eher antiker Natur, wenn auch nicht ganz jugendfrei für mein Dafürhalten – und zwar in Bezug auf Gewalt.
Die Führung übernahm die alte Dame, die uns auch schon in Empfang genommen hatte. Sie wollte in ihrer Führung nicht auf die einzelnen Objekte und Gemälde eingehen, die in den Räumen hingen. Ihr ging es mehr um die Geschichte des Anwesens und ihrer Bewohnern, einer Geschichte voller Liebe und Skandale. Es war manchmal schwierig, den Geschichten zu folgen, da eine Emma genauso hieß, wie eine andere Emma – Mutter und Tochter – war es zweitweise recht schwierig, der Geschichte zu folgen, da die gute Dame auch ein wenig sprang. Aber die Dame sprach akzentuiert und voller Begeisterung von der Geschichte, dass es viel Spaß machte, ihren Geschichten zuzuhören und wir haben sie später außerhalb rekonstruiert und jeder trug ein Stückchen zur Geschichte bei. Bei einer früheren Gelegenheit hatten wir darüber nachgedacht, ob die Freiwilligen nach einem Rotationsprinzip arbeiten. Nachdem wir aber mit der Dame in Hanbury Hall unterwegs waren, kamen wir zu dem Schluss, dem Erlebnis dieser Güter nicht zum Vorteil gereichen würde. Denn solche Damen wie diese – Yvonne hieß sie, glaube ich -, haben einen ganz eigenen Esprit, den man nicht durch jemanden ersetzen kann, der sich in der Organisation eines Empfangs oder des Parkplatzes verdient macht. Ich bin immer noch baff, dass in den letzten vierzehn Tagen National Trust-Erlebnis kein einziges Mal ein Beispiel von Unfreundlichkeit und Missmanagement entdecken konnte. Dazu gehört schon einiges, wie ich finde, denn Missgeschicke gehören doch zu unserem Alltag.
Yvonne bekam schon einen kleinen Anpfiff von ihrem Kollegen, da sie ein „ihre Show“ überzog. Aber sie hatte noch so viele Geschichten von „fall in deep, deep love“ und die daraus manchmal entstehenden Skandale auf Lager, dass sie uns nur sehr ungern in die harte, grausame Welt entließ. In der die ersten Regentropfen nicht lang auf sich warten ließen, so dass wir die Gelegenheiten für eine früher Tee-Pause nutzten, und dann den Rest des Parks eroberten.
Meine Verwunderung und Bewunderung des Prinzips „National Trust“ habe ich zur Genüge geäußert, aber ich bin damit noch nicht ganz durch. Man möge sich das Folgende vorstellen: Eine mehrköpfige Familie (Oma, Mutter, Vater, drei Kinder, plus Onkel und Tante plus Anhang) kommt in einen Park wie den Neuen Garten in Potsdam. Sie hat am Eingang einen ordentlichen Obolus entlohnt oder eine Jahreskarte vorgezeigt. Im Gepäck haben sie nicht nur die obligatorischen Fahrräder und Puppenwagen, sondern auch Decken, Schirme, Fresskörbe und Equipment, um auf einem ausgedehnten Stück Grün (in Deutschland „gut gepflegter Rasen“, in England „kursgeschnittene Wiese“ – die Ansprüche sind etwas unterschiedlich) Kricket, Fußball oder ähnliches zu spielen. Dieses Gedankenspiel muss ich gar nicht weitertreiben, oder? Mir scheint es unvorstellbar, dass man das in Deutschland sieht. Hier ist es aber gang und gäbe, völlig selbstverständlich. Einen großen Unterschied zwischen dem Neuen Garten in Potsdam und den Herrenhäusern, die wir hier besuchten, kann ich nicht feststellen – der Vergleich ist also nicht an den Haaren herbeigezogen.
Wir hatten die dringende Empfehlung bekommen, um ein Uhr ins Herrenhaus zu kommen und Bilder aus dem ersten Stock vom Garten zu machen. Aber die Führung war schon ein Kompromiss gewesen, insofern ließen wir das mal und machten uns auf zu neuen Ufern. Nach kurzer Diskussion entschieden wir uns für den Clent Hill. Ein Hügel halt, der eine schöne Aussicht bieten sollte und vier Meghaliten, wenn man es bis nach oben geschafft hatte. Das Navigationssystem war darauf trainiert, den schnellsten Weg herauszusuchen: Wir glaubten seinen Ergebnissen nicht immer, da man sich gefühlt oft im Kreis bewegte. Die Straßen, gerade die kleineren, sind von einer geraden Streckenführung, die wohl als Ideal im Straßenbau gilt, weit entfernt. Aber wir kamen an. Meistens.
In diesem Fall nicht. Denn der Clent Hill ist verdächtigt schlecht ausgezeichnet gewesen. In einem Kreisverkehr wurde der Hügel prominent mit zwei andere Attraktionen erwähnt. Im Nächsten gab es nur den Vermerk, dass man nach rechts fahren solle. Das war nicht ganz hilfreich, da es sich um einen Kreisverkehr mit fünf Ausfahrten handelte. Dass die beiden anderen Attraktionen an ihren Ausfahrten deutlich gekennzeichnet waren, unser Ziel aber nicht, war nicht hilfreich. Erst im zweiten Versuch, schafften wir es, in die richtige Richtung zu fahren. Das wussten wir aber nicht, da es keine Schilder mehr gab. Spontan entschieden wir uns um und entschlossen uns, nach Birmingham zu fahren. Plötzlich kam in einer komplett anderen Gestaltung der Hinweis, dass man zum Clent Hill abbiegen könne. Machten wir.
Vom Parkplatz machten wir uns auf den Weg nach oben. Von der Aussichtsplattform hat man einen wunderschönen Blick auf die Umgebung. Vom eigentlich Gipfel, an dem auch die Meghaliten stehen, ist der Ausblick noch viel schöner. Dort hielt sich fast niemand auf. Das ist ein komisches Ding, mit den Engländern, dass sie das eigentlich Ziel oder die richtig schönen Dinge gar nicht mehr wahrnehmen. Wir saßen später auf einer Wiese, schauten auf eine wunderschöne Landschaften, frotzelten herum und hatten unsere Ruhe.
Da wir nun schon so nah an Birmingham waren und es noch früher Nachmittag war, sprach nichts dagegen, der Stadt einen kurzen Besuch abzustatten. Der Reiseführer hatte von einer Kathedrale nichts erwähnt, weshalb wir erst bei der Ausfahrt bemerkten, dass es eine gegeben hätte. Die Formulierung soll zu verstehen geben, dass wir die Kathedrale nicht gesehen haben und wir hoffen, dass es ein hässliches, verkrüppeltes, modernes Ding ist, was man nicht anschauen muss. Es würde uns wirklich treffen, wenn wir einer Stadt, die wir nach unserem Kurzaufenthalt für nicht besuchenswert halten, Unrecht angedeihen ließen – nur weil wir eine schöne Kirche nicht gefunden haben. Glaube ich aber nicht.
Es mag sein, dass Birmingham nach London die zweitgrößte Stadt Englands ist. Das macht sie aber nicht zur zweitschönsten Stadt des Landes und ich würde mir wünschen, dass Reiseführer ein wenig ehrlicher sind und sich dort Sätze finden wie:
Unsere ehrliche Meinung ist, dass sie die verborgene Schönheit der Stadt durchaus entdecken können, wenn sie ganz viel Zeit haben. Ist ihre Zeit in unserem schönen Land allerdings begrenzt (< 2 Jahre), dann können Sie die Stadt ohne Bedenken und schlechtes Gewissen einfach links liegen lassen. Verschwenden Sie nicht ihre Zeit!
Statt dessen wird von einem belebten Schwulen-Stadtviertel gesprochen und davon, das man in einem anderen Viertel der Stadt gut asiatisch Essen könne. Das lasen wir, nachdem wir ein Parkhaus in der Innenstadt gefunden hatten, welches glücklicherweise an der einzigen Stelle der Stadt, die uns sehenswert und belebt vorkam (was ein wenig gelogen ist – ich fand ein anderen Stadtteil ebenfalls sehr belebt, was aber daran lag, dass gerade alle Muslime die Moscheen verließen und ordentlich was los war, einschließlich einiger Vorfahrtsdelikte), lag.
Da ich schon am Schimpfen mit Reiseführern bin, mache ich einfach mal weiter: Mich nervt der ewige Vergleich von Städten mit Venedig. Ja!, Venedig liegt am und im Wasser. Aber Hamburg, Amsterdam und selbst London haben mehr Brücken als Venedig. Warum also wird in einem Reiseführer ein Vergleich zu Venedig gezogen, wo die anderen drei Städte viel naheliegender wären, da sie wie Birmingham nicht am Meer liegen? Ja, die Länge der Kanäle ist beachtlich – aber das macht die Stadt noch nicht einmal ansatzweise so attraktiv wie Venedig (oder Hamburg, Amsterdam oder London). Sorry, Birmingham!
Wir landeten am Brindleyplace und dieser scheint das Herz der Stadt zu sein. Unzähligen Kneipen und Restaurant mit Unmassen an Leuten, die sich vergnügen. Nett anzusehen und man freut sich für die Menschen in Birmingham, dass sie einen solch attraktiven Mini-Stadtkern haben. Ein alter Mann, der im Rollstuhl vor meinen Füßen geparkt wurde, als die anderen Reisegruppen-Mitglieder sich intensiver mit einem Geld-Automaten beschäftigten, erzählte mir, dass er lange Jahre in Birmingham gelebt hatte und sich nach längerer Abwesenheit freue, wie positiv sich die Stadt in dieser entwickelt hötte. Wenn man so etwas von einem alten Menschen hört, dann finde ich, hat das schon was zu sagen.
Sehenswert ist das ICC (zumindest von innen) und die Bibliothek, wobei ich hier eher von interessant denn von schön sprechen würde. Diese kann man betrachten, wenn man auf dem Centenary Square steht, der auf Karten aus unerfindlichen Gründen grün eingezeichnet ist, aber nur eine Betonwüste ist. Dreht man sich auf diesem Platz um seine eigene Achse sieht man eine Reihe von Abscheulichkeiten und nur wenig Licht, die wohl symptomatisch für die Stadt sind. Das Ganze würde in einem Reiseführer wohl mit dem Euphemismus „interessante Mischung aus Geschichte und Moderne“ beschrieben werden. Solch interessante und sehenswerte Mischungen gibt es – Boston sei als Beispiel genannt – , in Birmingham jedoch nicht. Man geht vielleicht noch einmal zum Denkmal, welches golden auf der anderen Straßenseite des Platzes steht und unter anderem James Watt gewidmet ist. Dann hat man nur noch den Wunsch, die Stadt zu verlassen.
Um noch einmal auf den alten Mann im Rollstuhl zurückzukommen: Ich will mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich es früher gewesen ist.
Wir fuhren zurück nach Alcester, feierten das Leben und gingen zu Bett.