Ungeplante Tage können zu Unruhe in der Gruppe führen. Letztes Jahr in Kalifornien wussten wir jeden Tag, von wo es nach wo geht oder wir hatten ein Highlight an dem Tag gehabt. Der gestrige und heutige Tag in Nha Trang waren zur Erholung gedacht und, nun ja, die Vorstellungen darüber, was Erholung ist, gehen manchmal auseinander. Schwesterchen empfindet als Erholung sich in die Sonne zu legen, die Augen zu schließen und zu warten, dass der Körper eine zarte bräunliche Färbung aufnimmt. (Viele vietnamesische Frauen halten dies für ein Sakrileg und legen viel Wert darauf, eine möglichst helle Haut zu haben. Woran man mal wieder sieht: Wie es die Natur eingerichtet hat, recht konnte sie es keinem machen.) Meine Wenigkeit würde Rumliegen am Strand als langweilig empfinden und so bin ich gestern ein wenig durch die Stadt gezogen, die Erlebnisse sind ja schon notiert worden, und heute morgen wünschte ich mir einen Ausflug zu den Wasserfällen.
Es gab ein Hin und Her und irgendwann wurde festgelegt, dass man getrennter Wege gehen kann. Gut, sagte ich, dann gehe ich zu einer Reiseagentur und besorge mir einen Ausflug zu den Wasserfällen. (Überhaupt: Was kann das für ein Urlaub sein, bei dem man keine Wasserfälle sieht?) Partei Nummer 2 setzte, wie zu erwarten, auf Strand und Spa und Partei Nummer 3 wollte gern Schlendern, Strand und Spa – aber irgendwie auch mit zu den Wasserfällen. Wie immer wollte Susann alles und natürlich nur das Beste. Frau Schwiegermama wollte was erleben und nicht an den Strand. Herr Papa wollte eigentlich auch was unternehmen, aber nicht zu schwierig, nicht mit zu viel Laufen, andererseits auch an den Strand, aber auf keinen Fall zur Massage. Wer jetzt den Eindruck gewonnen hat, dass die sechsköpfige Reisegruppe, sieben Parteien bilden kann, der hat den richtigen Eindruck.
Da wir zu diesem Zeitpunkt schon zehn Uhr schrieben und es ab halb sechs Uhr dunkel wird, trompetete ich für den Abmarsch meiner kleinen Partei. Vor dem Hotel stand eine Gruppe von Taxi-Fahrern, die ihre Dienste anbot. Nein, meinte ich zu einem, wir wollen eine Reise zu den Yang Bay-Wasserfällen unternehmen. Er antwortete so etwas wie: »Ja, toll! Warum dann nicht mit mir? Wie viele Personen?« Er machte einen guten Preis (obwohl ich mir sicher bin, dass man hätte handeln können, was ich aber am frühen Sonntagmorgen noch nicht so hinbekam). Was nun folgte ist unbezahlbar: Er fuhr los, hielt ein paar Meter später an und entfernte sämtliche Insignien eines Taxis und fuhr in Richtung Wasserfall.
Wir waren fast aus Nha Trang heraus, was ich natürlich erst mitbekam, als wir die Stadt verlassen hatten, um vor einem Shop anzuhalten. Hier könne man sich günstig mit Wasser eindecken. Was er erst kurze Zeit später erwähnte: … und man könne bei der Gelegenheit seine Frau kennenlernen, seinen Sohn, seine Tochter und die Schwiegermama, die mit einem typischen Vietnam-Klischeebild entsprungen sein konnte, wie sie mit der zahnlosen Oberreihe so dasaß und lächelte. Unsere Verwandschaftsverhältnisse waren schon geklärt und die Kinderlosigkeit unserer Beziehung ließ ihn genauso fassungslos zurück, wie die Tatsache der späteren Heirat (was ihn ein wenig von Luan, unserem ersten Reiseguide unterschied, der auch erst mit dreißig geheiratet hatte – aber das ist vielleicht auch eine Frage des Bildungs- und Gesellschaftsgrades in Vietnam). Bei der Gelegenheit wurde noch die Frage gestellt, wie alt denn die Frau Schwiegermama wäre und man meinte, sie würde ja viel jünger aussehen. Es wurden ein paar Fotos gemacht und dann ging die Reise weiter.
Zu den Wasserfällen: Oh ja, die waren schön. Nicht so groß und spektakulär wie Yosemite Nationalpark im letzten Jahr, aber schön waren sie. Ein wenig schwierig zu erklettern, woran die feuchten und bemoosten Steine sicher auch ihren Anteil hatten. Der Pfad war abrupt zu Ende oder ging in den Ho-Chi-Minh-Pfad über und war damit für mich als Sandelen-beschuhten zu Ende gewesen. Allerdings sah es auch nicht so aus, als würde es noch großartig weitergehen. Die Beschilderung war allerdings auch nur auf Vietnamesisch, was der einheimischen Bevölkerung hilfreich sein kann – diese war aber nicht anwesend, da sie sich die Eintrittspreise gar nicht erlauben konnte. Aber das ist ja wieder eine ganz andere Geschichte.
Da wir das Rundlos-Sorglos-Paket gekauft hatten, ging es im Anschluss zu einer Hängebrücke über einen anderen Wasserfall und dort hätte man auch die Gelegenheit gehabt zu Baden. Badezeug war aber just an diesem Tag zu Hause geblieben, da zwar die Temperaturen ein Baden hergegeben hätten (28° Celsius), aber der Himmel bedeckt gewesen war. Nun schade!
In einem Akt tiefgründiger Tierliebe unterließen wir es, die Strauße zu bereiten. Diese machten auch bei den etwas leichteren Vietnamesen nicht den Anschein, als wäre das auch für sei ein Vergnügen. Wogegen im Anschluss die Krokodile einen großen Spaß hatten, das an Angeln hängende Fleisch zu ergattern. Das sah nach einer klassischen Win-Win-Win-Situation aus: Die Krokodile bekamen ein paar Snacks, die Touristen ihr Vergnügen und der Ressort-Betreiber ein paar zusätzliche Moneten.
Warm war es, das wurde ja schon erwähnt, und unser Fahrer packte eine Drachenfrucht heraus, schnitt sie auf und teilte sie. In Saigon hatten Susann und das Schwesterchen einen Drink aus dieser Frucht und waren mäßig begeistert. Jetzt in der Hitze, war der säuerliche Geschmack aber gerade das Richtige.
Nun ging es wieder zurück in die Heimat, unterwegs noch ein paar Fotostopps – Reisfelder, bewaldete Bergketten (erwähnte ich eigentlich, dass abgesehen von den Wasserfeldern, die gesamte Landschaft ein Gedicht war? Nein. Das sei dies hiermit nachgeholt. Erwähnte ich schon, dass der Verkehr auf dem Land recht erträglich ist [Ja, auch dort gibt es Geisterfahrer, aber die hat man im Griff.], so dass man auf den Gedanken kommen könnte, sich ein Auto zu mieten und selbst zu waren, was einen für Fotostopps flexibler macht? Nein, doch den Gedanken hatte ich tatsächlich. Die Straßen sind auch nicht viel schlimmer als zwischen Potsdam-Grube und Potsdam-Schlänitzsee.), Spinnen (oh, so eine große Spinne habe ich in freier Wildbahn noch nie gesehen. Leider ist es mir nicht gelungen, verlässlich dem Taxifahrer zu entlocken, ob sie gefährlich gewesen wäre. Das Wort »gefährlich« und »giftig« waren nicht in seinem Englisch-Sprachschatz gewesen, was aber auch ein gutes Zeichen sein kann. Manchmal ist es schwierig: Man sagt die Worte und sie werden mit einem Lächeln und Nicken wiederholt – »ja, ja – gefährlich!« und mir fehlt dann der Glaube, ob es wirklich so ist.) Andererseits ist diese skeptische Grundhaltung manchmal auch hinderlich: Wie erzählt, bin ich gestern gefragt worden, ob ich was Essen wolle – oder ich habe es so interpretiert. Ich dachte, das war nicht ernst gemeint. Wenn man allerdings zu Beginn einer Ausflugstour erst einmal der Familie vorgestellt wird und auch dort wieder freundlich begrüßt wird und ein großes Hallo aus der Runde kommt, dann bekommt man schon Zweifel, ob die Skepsis angebracht ist.
Wieder in Nha Trang fuhren wir an dem Geschäft vorbei, welches mehr ein Café war, und dann bog er ab, in eine Straße und fuhr mit uns an einem Markt vorbei. Er meinte, der Markt wäre nur einen Kilometer von seinem Zuhause entfernt. Aha, dachte ich mir, das mag wohl hinkommen. Ob wir den Markt besuchen wollen. Frau Schwiegermama war unentschlossen, Susann abgeneigt und so fuhren wir vorbei. Besichtigten so nebenbei eine große Straßenbaustelle mitten in der Stadt, fuhren über eine Brücke und bogen in eine Straße. Das könne ich ja mal fotografieren, war er der Meinung. Ich stieg aus und war ratlos. Was sollte ich fotografieren? Die neue Brücke, den Fluss oder die Berge im Hintergrund, die regenwolkenverhangen waren? Das war alles kein Motiv, aber da ich den Mann nicht enttäuschen wollte, machte ich mal ein Foto.
Es hupte, und ein Mann fuhr auf dem Moped unserem Fahrer etwas zurufend vorbei. Der Fahrer rief etwas zurück, lachte und meinte, das wäre ein Neffe von ihm. Dann erzählte er, vermutlich kann ich an der Stelle nur sagen, dass es an der Stelle manchmal Hochwasser gäbe und sein Haus würde bedrohnt sein. Ich verstand es nicht richtig und Susann auch nicht. Irritiert war ich auch deshalb, weil ich glaubte, dass er über dem Geschäft/Café wohnen würde und das wäre ein ganz schönes Stück entfernt.
Zurück im Auto fragte er, ob wir sein Haus sehen wollten. Ja, gern, meinten wir und er drehte noch einmal um und fuhr kurz darauf in eine Straße, die den Namen »betonierter Weg« verdiente, aber auf der von der Gegenseite nichts hätte kommen dürfen, nicht mal ein magersüchtiger Floh.
Er hielt an, stieg aus und verschwand kurz. »Haus angucken« hatte ich mir anders vorgestellt. Kurz darauf wurde ein Tor aufgeschoben und die Türen aufgerissen. Ein junges Mädel kam aus der Haustür und wurde als Nichte vorgestellt. Wir gingen ins Wohnzimmer und erhaschten auch ein Blick auf die Zimmer nebenan, über die ich nur soviel sagen kann: Es standen nicht großartig Möbel drin und sie waren klein. An der Wand hingen eine Reihe von Bildern und Collagen, die er uns erläuterte. Eine solche Wand zierten Aufnahmen von ihm in einer Gruppe von »Weißen« und ich bin fest der Überzeugung, dass wir auch noch in diesem Wohnzimmer landen werden. Wenn ich das geahnt hätte, hätte ich mir was Anständiges angezogen. Tja, zu spät! Im Wohnzimmer, das auch nicht sehr groß ist, gab es Couch, ein Buffet, ein Fernseher und einen Computer. Es werden trotzdem eine Menge Leute dort hineinpassen, schließlich sitzt man in Vietnam im Haus gern auf dem gefliesten Boden.
Weshalb ich mir nun so sicher bin, dass wir auch in dem Wohnzimmer landen werden. Er wollte seine Reisegruppe zusammen fotografieren. Wir meinten, er müsse mit auf dem Bild sein, woraufhin er rief: »Nephew!«, worauf hin sie so oder so nicht reagierte und er dann ihren Namen rief. Freundlich wie sie war, machte sie Fotos von uns. Zu dem Zeitpunkt stand vor dem Zaun die gesamte Kinderschar der Nachbarschaft und auch ein paar von den Erwachsenen. Die Kinder begrüßten uns mit »Hello!« und lachten uns an, die Erwachsenen grüßten zurückhaltener. Damit dürften wir die Attraktion des Tages in der Straße gewesen sein.
Nun stehen wir gleich wieder vor der Frage, welches Restaurant wir heimsuchen werden. Die beiden ersten Tage in Nha Trang waren wir ja etwas »edler« Essen gewesen – oder wie An sagte: »Oh, teuer, sehr teuer!« Für ihn ja, für uns nicht – das war es halt. Aber er hatte uns auf die Nha-Trang-Karte ein paar Restaurants gemalt, die wir besuchen sollten und eines von denen haben wir gestern ausprobiert. Sagen wir es mal so: Wäre ich nicht reingestürmt, der Rest der Reisegruppe wäre desertiert. Man sah in den Gesichtern deutlich geschrieben: »Ist nicht wahr!« Doch war es. Die beste Umschreibung dafür war noch »gefliester Schuppen«, aber ich war mir ziemlich sicher, dass uns An das Etablissement nicht empfohlen hätte, wenn er nicht der Meinung gewesen wäre, dass es gut wäre. Sechs Personen, meinte ich zu der Bedienung, woraufhin in aller Eile zwei Tische zusammengeschoben wurden. Der eine Tisch war sauber, der andere nicht. Ich erwartete nun, dass die dreckige Hälfte des Tisches sauber gemacht wird – einfach so mit einem Lappen. Aber das war natürlich ein sehr europäischer Gedanke. Nein, uns wurde die Ehre zuteil, dass eine Tischdecke herausgeholt wurde und diese über beide Tische gezogen wurde. Damit war der Dreck ersteinmal nicht zu sehen. (Es war nun auch nicht so viel Dreck, als das man ihn durch die Löcher der Tischdecke hätte sehen können.)
In dem Restaurant herrschte eine heftige Geschäftigkeit. Gäste kamen und gingen, Essen wurde herbeigebracht und das leere Geschirr in großen Behältnissen zur anderen Straßenseite gebracht, von der auch das eine oder andere Gericht kam. Unser Essen war sehr lecker und obwohl es nicht viel aussah, war es mehr als ausreichend. Wir fragten nach Desserts, an dem Tag hatten wir kein Lunch gehabt, aber das war wohl ein zu verwegener Gedanke.
Mal sehen, wo wir heute Abend landen werden…