Sonnabend kam meine Frau Mama in den Vormittags-Stunden auf die Idee: »Wir könnten ja mal eine Ausflug machen. Das Wetter ist so schön!« Das mit dem Wetter stimmte. Als Vorschlag wurde Nedlitz genannt, kurz vor Potsdam. Als Begründung wurde angeführt, dass es dort so schön renovierte Häuser auf dem alten Kasernengelände geben solle.
Nach einigem Hin und Her machten wir uns auf den Weg, verkauft auch als Schulung. Denn sowohl der Herr Papa wie auch Frau Mama waren mit brandaktueller Technik ausgestattet worden, die nach theoretischen Einweisungen am Vorabend praktischer Übung bedurften. Die 3050 möglichen Fotos auf dem neuen Fotoapparat von Frau Mama sollten ausreichen, bei der Handycam des Herrn Papa waren Kapazität des Akkus und der Speicherkarte noch nicht abschätzbar.
Nedlitz erwartete uns mit renovierten Kasernengebäuden, die jetzt Eigentumswohnungen der gehobenen Klasse waren. Das Ausflugsziel war aber innerhalb von weniger als 180 Sekunden umrundet und es stellte sich die Frage: »Was nun?« Wie wäre es mit Kartzow wurde von Frau Mama gefragt und da wir Kinderchens wohl noch nie da gewesen waren und Herr Papa keine ernsten Einwände hatte, starteten wir in die Richtung.
Im Schloss Kartzow hatte die Frau Mama Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre als Kindererzieherin gearbeitet, denn dort war ein Kinderheim untergebracht. Sie wohnte auch dort in einem Zimmer mit Ausblick auf den Park. Das hört sich romantischer an, als es wohl gewesen ist. Denn selbst heute noch ist Kartzow irgendwie jwd, auch wenn hin und wieder mal ein Bus fährt. Nur wohin der fährt, könnte ich nicht sagen. Man war in einem Kaff untergebracht und trotzdem brachte kamen Frau Mama und Herr Papa zusammen. Noch erstaunlicher: Während die Frau Mama mit einem Roller unterwegs sein konnte, ist mir nicht bekannt, dass der Herr Papa zu der damaligen Zeit schon motorisiert war. Er war auf den Bus angewiesen.
Lange Rede, kurzer Sinn: Vorgestern wurde offenbart, dass ich auf Schloss Kartzow gezeugt wurde. So wurde ich auch den jetzigen Bediensteten des Hotel-Restaurants vorgestellt: »Ich habe hier mal gearbeitet und mein Sohn wurde hier gezeugt.« Fein. Mit knapp über vierzig Jahren kann man trotzdem noch rot werden.
Heutzutage kann man von einem edlen Ambiente reden. Wir standen im ersten Stock und Frau Mama und Herr Papa diskutierten, welches denn jetzt ihr Zimmer gewesen wäre. Zimmer 7 oder Zimmer 6. Man tendierte leicht zu Zimmer 6, was ja irgendwie ein Zeichen gewesen wäre. Allerdings nahm man an, dass die Türen verschwunden wären. Irgendwie war etwas durcheinander. Es brauchte einige Zeit, bis wir dahinter kamen, dass es noch ein Stockwerk drüber war und schlagartig war klar: »Hier schliefen ja früher die Kinder.«
Also ging es noch eine Etage höher und dort waren die Zimmer dann zum einen nicht ausgebaut und zum anderen auch viel, viel kleiner. Das Zimmer, in dem ich keimte, wurde schnell wiedergefunden und, nun ja, da war nicht viel Platz.
Es gab wohl nur zwei Möglichkeiten, sich zu unterhalten: Entweder aus dem Fenster gucken oder Kuscheln. Offenbar hatte man nicht nur aus dem Fenster geschaut.
Obwohl der Ausblick wirklich reizend gewesen sein muss. Ich stelle mir mal vor, dass es auch romantische Spaziergänge durch den Schloss-Park gab. Damals noch Hand in Hand. Das ist heute nicht mehr so üblich, das der Herr Papa die Frau Mama an die Hand nimmt und mit ihr spazieren geht. Jetzt, wo die neue Technisierung um sich gegriffen hat, mal schon gar nicht mehr. Denn die Frau Mama hat ihre Kamera in der Hand und der Herr Papa macht Filme mit der Handycam.
Enttäuscht war nur das Schwesterchen, weil nach so vielen Offenbarungen sich die Eltern nicht nehmen ließen, auch noch eine Muster-Zeugungs-Szene in Potsdam zu beschreiben, die mit Romantik wenig zu tun hatte.
Mein weiterer Lebensweg ist bekannt: Ich landete in einer Plattenbau-Siedlung in einer Plattenbau-Wohnung, lernte in einer Plattenbau-Schule und bekam in der Plattenbau-Schülerspeisung (die gerade abgerissen wird) mein Mittagessen. Für Schloss-Atmosphäre muss ich mittlerweile meistens Eintritt bezahlen. So geht das halt mit dem Leben.