Gegen halb acht Uhr morgens waren wir beim Frühstück und – entgegen unserer Annahme – nicht allein. Es wurden die üblichen Sachen gereicht, dann wurde das Gepäck bei strömendem Regen im Wagen verstaut (womit auch klar war, dass die verfrühte Abreise kein Fehler war), kauften beim örtlichen Käsehändler die Reblochons auf und machten uns auf den Weg in Richtung Norden.

Gegen elf Uhr waren wir nur noch wenige Kilometer von Lyon entfernt, hatten die Wolken an den Bergen bewundert und ebenso wie die Fluten des neben der Autobahn verlaufenden Flusses, den man auch den Schwarzen Fluss hätte nennen können, und in dieser Kombination entwickelten sich Dialog-Fetzen, die nur noch von einem Thema bestimmt werden sollten.

11:05 Uhr

»Es ist bald zwölf Uhr. Wir sollten darüber nachdenken, etwas zu essen.«

»Schnuckel, es ist elf Uhr und ich habe noch gar keinen Hunger. Wir haben gerade erst gefrühstückt.«

Schon an den beiden Sätzen erkennt man, dass es bis zu einem Kompromiss recht weit sein wird. Aber Susann (Schnuckel) gibt so schnell nicht auf.

11:12 Uhr

Das Schild einer Autobahn-Raststätte schnellte an uns vorbei.

»Da könnten wir gut Rast machen.«

»Hmm, aber es ist erst kurz nach elf. Kein Hunger.«

»Aber ich.«

»Das ist kein Hunger, Du hast Appetit.«

»Egal.«

Die Abfahrt zur Raststätte ist an uns vorbei.

11:34 Uhr

Die nächste Raststätte steht vor der Tür und Susann meldet sich wieder:

»Ein Sandwich könnte ich ganz gut gebrauchen.«

»Hmm.«

»Auf Toilette muss ich auch.«

»Das ist mal ein Argument.«

»Und dann können wir auch was schönes Essen.«

»Ich habe aber keinen Hunger.«

»Das kann doch nicht sein!«

»Doch, ist aber so. Wir haben doch gerade erst gefrühstückt.«

»Das stimmt nicht. Das ist schon fast vier Stunden her.«

»Sag ich doch.«

»Wir müssen aber was essen!«

»Also ich nicht.«

Auch diese Raststätte wird rechts liegen gelassen.

11:36 Uhr

Susann beschwert sich ausdrücklich, dass die Frequenz, mit der Raststätten an französischen Autobahnen, für die man ja auch noch Maut bezahlen muss, wirklich erbärmlich ist und nur alle dreißig Kilometer eine kommt. Ich bestätige ihr, dass ich das auch für ein Skandal halte, damit wird der Ball aber nicht wirklich flach gehalten.

11:42 Uhr

»Ohh, habe ich einen Hunger.«

Das kam nicht von mir.

11:44 Uhr

Das Toiletten-Argument erhält wieder Einzug.

11:49 Uhr

Ich werde für gemein erklärt, weil ich keinen Hunger habe.

11:55 Uhr

Wir fahren auf einen kleinen Parkplatz, der auch einen Autogrill sein eigenen nennt, und der auch Toiletten beinhaltet. Selig zieht Susann von dannen und das nicht weg zu diskutierende Bedürfnis wird befriedigt. Ich bin froh und hoffe, dass sie erleichtert und gesättigt wieder kommt. Aber das trifft nicht ganz zu. Erleichtert ja, aber gesättigt nein:

»Kommst Du?«

»Wohin?«

»Was essen.«

»Nöö, geh nur.«

»Wie, Du willst nichts essen?«

»Ich habe keinen Hunger, immer noch nicht. Ich muss nichts essen.«

»Nicht mal ein Sandwich?«

»Nicht mal ein Sandwich. Hol Dir eins und einen Kaffee, und dann fahren wir weiter.«

»Das geht nicht.«

»Warum?«

»Ich will mit Dir Mittag essen, zusammen. Nicht allein.«

Man merkt, dass hier ein Ausweg nicht wirklich zu sehen ist. Der eine hat Hunger, der andere nicht. Ich versuche es mit einem Angebot:

»Wir fahren in Dijon an einem Supermarkt raus und essen dort was. Da kann ich auch noch Käse kaufen.«

»Warum willst Du denn noch Käse kaufen? Wir haben doch schon Käse.«

Die Diskussion erspare ich dem geneigten Leser einmal. Auf alle Fälle sitzt Susann wieder im Auto, ohne Kaffee und ohne Sandwich.

12:13 Uhr

»Ich glaube, ich habe eine Unterzuckerung.«

12:14 Uhr

»Ich glaube, ich habe eine Unterzuckerung.«

12:15 Uhr

»Mir geht‘s nicht gut, ich habe – glaube ich – eine Unterzuckerung.«

Ich hole einen der aus dem Hotel mitgenommenen Bonbons hervor und gebe ihn Susann. Das sollte das Problem erst einmal lösen.

12:21 Uhr

Die Unterzuckerung ist kein Thema mehr.

»Ich habe Hunger.«

12:25 Uhr

»Wir könnten so schön an einer Raststätte anhalten und etwas zu Mittag essen.«

»Warum sollten wir?«

»Hunger?!?«

Ich bin nun schon beim Käse-Einkauf und irgendwie gar nicht mehr auf Raststätte aus. Aber Themen, die man mit Frauen hat, sind nur scheinbar erledigt. Sie kommen immer wieder hervor.

»Wir sind bald in Dijon, spätestens um eins. Dann finden wir einen Supermarkt und können da…«

»… in einem Restaurant was essen gehen.«

»Hmm, vielleicht auch beim Bäcker was kaufen, ein Sandwich zum Beispiel, und ich kann mir Obst holen.«

»Obst?«

»Bananen zum Beispiel.«

»Ich dachte an ein schönes Restaurant und ein Menu du Jour.«

»Super, wir sitzen den ganzen Tag im Auto und haben dann Vorspeise, Hauptspeise und Dessert.«

»… und Kaffee.«

12:29 Uhr

»Warum willst du denn unbedingt Käse kaufen?«

»Weil er hier vielleicht günstiger ist.«

»Du und Dein blöder Käse.«

»Du isst ihn doch auch…«

»Der hält sich doch sowieso nicht.«

»Wir kaufen doch nicht soviel.«

Die Unzufriedenheit auf der Beifahrerseite ist greifbar. Hoffentlich sind wir bald in Dijon und finden einen Supermarkt. Eine Stunde kann ziemlich lang sein, wenn man eine unzufriedene Ehefrau neben sich hat.

12:36 Uhr

»Ich mach mal ein wenig die Augen zu.«

»Gut, Schnuckel, mach das.«

»Wenn Du komische Geräusche hörst: die kommen nicht vom Auto, das ist mein Magen.«

12:38 Uhr

»Ich kann nicht schlafen, wenn ich Hunger habe.«

12:39 Uhr

Mein Hunger-in-Afrika-und-Hunger-in-Frankreich-Vergleich kommt nicht gut an.

12:42 Uhr

Als alter Fan von Woody-Allan-Filmen fange ich an, die Ursachen zu suchen. Die liegen, wie man weiß, oft in kindlichen Irritationen – da müsste doch wohl was zu finden sein.  Susann argumentiert oberflächlich mit Hunger, was ich natürlich nicht gelten lassen kann, ohne aber auf den Afrika-Vergleich zurückzukommen, der mir schon kurze Zeit vorher nicht geholfen hat.

»Mama hat früher bei langen Fahrten immer eine Tasche gehabt. Hat man dann „Hunger“ gerufen, wurde ein Würstchen nach hinten gereicht.«

»Wie praktisch: Und wie war das, wenn die Tasche mal leer war.«

»Die war nie leer.«

Es half und in der Situation nicht, aber wenigstens hatten wir die Ursache der Misere ausgemacht: Meine Schwiegermutter ist schuld. Tut mir leid, dass sagen zu müssen, dass die beste Schwiegermutter der Welt hier offenbar Mist gebaut hat. Und ich hatte das nun auszubaden.

12:56 Uhr

Dijon ist in Sicht und meine Frau schiebt den Hunger beiseite und konzentriert sich auf die Suche nach einem Supermarkt. Da, wo sonst alle paar Meter einer versucht Kunden zu locken, ist jetzt natürlich keiner zu sehen und wir fahren auch irgendwie im Kreis, bevor wir zu einem riesigen Einkaufs-Viertel kommen.

13:05 Uhr

Geschafft. Wir sitzen in einer Brasserie und können bestellen.

13:40 Uhr

»Das war ja wieder viel zu viel.«

23:05 Uhr

»Hast mich trotzdem lieb?«

Der Text wurde vom Schnuckel freigegeben. Dann ging es weiter in Richtung Luxemburg und für den Abend hatte ich mir noch mal eine Überraschung ausgedacht. Susann war wieder fleißig am Raten, wo es denn hingehen könnte, aber ich wusste, dass sie wie bei Brahams eigentlich keine Chance hatte. Zwar war der Ort auf der Frankreich-Karte noch eingezeichnet, aber meine Hinweise kamen nur sehr, sehr zögerlich.

Hintergrund war folgender Schnack den wir haben. Ich fange an mit:

»Ja, damals…«

und Susann setzt ihn fort mit:

»… in den Ardennen.«

Wer jetzt einmal auf die Landkarte schaut, wird feststellen, dass wir von Luxemburg aus ziemlich fix in den Ardennen sind. Zugegeben, ich hatte nicht den geringsten Plan, wie es denn in den Ardennen aussieht und mein Wissen beschränkte sich darauf, zu wissen, dass es sich um ein Mittelgebirge handelt, welches aber bei Stand, Land, Fluss nur sehr eingeschränkt aufgrund seiner Länge zu verwenden ist und den Alpen, den Anden und dem Atlas-Gebirge hoffnungslos unterlegen ist.

Der Ort, den ich mir ausgesucht hatte, trug den schönen Namen La Roche-en-Ardenne. Ich dachte mir, dass Susann bei der Hinfahrt schon drauf kommen würde, sobald sie den Namen sehen würde. Aber nein, zum einen wurde der Name oft nur mit La Roche genannt, zum anderen, wenn er dann mal komplett genannt wurde, war Susann mit Augen und Geist immer woanders.

Irgendwann ließ ich mal den Hinweis fallen, dass der Ort unserer Beziehung einen neuen Teilaspekt hinzufügen würde. Die vorherigen Lösungsversuche, herauszufinden, was denn an dem Ort dran sein könnte, schlugen fehlt: Es hatte weder etwas mit Simenon, noch mit unserer Hochzeit noch mit unserer Hochzeitsreise zu tun. Aber irgendwie ja wieder nah dran.

Kurz vor der Ortseinfahrt, kam es Susann und sie fand die eigentlich verrückte Idee total nett. Jetzt haben wir einen Aspekt, den wir dem Satz immer hinzufügen können, beispielsweise. »Damals … in den Ardennen …«

– fanden wir einen absolut reizvollen Ort,

– eine stattliche Anzahl von Kneipen und Restaurants,

– haben wir sehr gut zu Abend gegessen,

– eine absolut erstklassige Créme Brulée genossen.