Wenn es eine Kategorie »cool« gibt, so bin ich mir sicher, dass ich in diese nicht falle. Beispiele: Ich fange nicht einfach so Gespräche mit fremden Leuten an. Auf Parties mit vielen Leuten fühle ich mich unwohl. Ich kann während einer Schulung als Teacher reden wie ein Wasserfall, in den Pausen schweige ich mich aber mit Vorliebe aus. Reden vor fremden Leute lässt mich ordentlich schwitzen. … Ich könnte die Liste noch über viele Absätze weiterführen. Aber was cool an mir ist, ist, dass ich gar nicht den Anspruch habe, cool zu sein. Helge hatte den Anspruch übrigens auch nicht.
Ich hüpfte damals arglos in Seligenstadt in der Firma herum und sollte mich mit einem Thema beschäftigen, was mir überhaupt nicht lag. Ich war nicht nur extrem ungern dort, ich hasste es sogar. Die Tatsache, dass ich zu Hause eine Freundin hatte, die mit einem gebrochenen Fuß unterwegs war (oder halt auch nicht), mag da ebenfalls mit eine Rolle gespielt haben. Es muss also 2001 gewesen sein, kurz nachdem wir nach Borgdorf gezogen waren und ich lernte Helge so richtig kennen. Wie ich das so unter gleichaltrigen Kollegen kannte, bot ich ihm das »Du« an – er war verdutzt, nahm aber an. Ich sollte kurze Zeit später feststellen, dass ich so ziemlich der Einzige in der Firma war, der Helge duzte. Ob die anderen nicht wollten oder Helge nicht wollte, ich weiß es nicht. Ich kann mir beides vorstellen. Er lief immer im Hemd und Krawatte herum und das wirkte für mich ein wenig deplatziert, da er die meiste Zeit keinen Kundenkontakt hatte und es auch nicht so recht zum Erscheinungsbild der Kollegen, weder des Support noch der Entwicklung (wie die rumlaufen, weiß man ja!) passte.
Es gab einen denkwürdigen Abend in diesem Seligenstadt, in dem die Fremden (Kollegen, die nur auf Besuch dort waren, und Kollegen, die nur Wochen-Beziehung zu dem Ort führen, um am Wochenende in ihre richtige Heimat zurückzukehren) sich in einem Restaurant trafen. Helge erzählte ein wenig was von sich und erwähnte, dass er aus der Nähe von Bielefeld käme. »Ja, aber Bielefeld gibt es doch gar nicht!« wagte ich einzuwerfen, »das ist doch nur eine Verschwörung, um uns zu verwirren.« Das war eine Anspielung auf die »Bielefeld-Verschwörung« und nach ein paar Bier findet man das noch viel witziger als das schon normal ist. Vorausgesetzt, man kommt nicht aus oder der Umgebung von Bielefeld. Helge war nicht der richtige Spielpartner für diese Art von Scherzen.
Ich bin mir nicht sicher, aber überraschte uns an diesem Abend irgendwie, in dem er was von seinem Hund erzählte, der ein besonderes Verhältnis zu Hitler hatte, wenn dieser einmal im Fernsehen erschien. Was das war, bekomme ich leider nicht mehr zusammen, aber es war auf alle Fälle so, dass er so erfolgreich von dem Thema »Bielefeld« ablenkte. Er verließ irgendwann, vor fünf Jahren würde ich sagen, die Firma und verschwand aus meinem Blickfeld. (Über Menschen, die das taten, könnte ich auch ein ganzes Buch schreiben. Es könnte fast melancholisch machen, was man da so verloren hat. Bei manch anderem Menschen war es allerdings ein Glücksfall. So ist das halt!)
Nun bin ich in Bielefeld, welches wirklich existiert, und laut Wikipedia 320.000 Einwohner hat. Wow! Hätte ich der Stadt gar nicht zugetraut. Sie ist noch größer als Kiel, was nun allerdings nicht so viel zu sagen hat. Immerhin wäre es eine bedeutende Verschwörung, und da ich noch nie an einer solch großen Verschwörung teilgenommen habe, wenn sie denn existiert, bin ich ziemlich beeindruckt. Ziemlich beeindruckt war ich dann auch von der Tatsache, dass ich heute im Bahnhof, ich wollte nur noch kurz meiner Hassliebe – den Mac-Zeitschriften -frönen, im Zeitungskiosk auf einen jungen Mann stieß, der Helge wie aus dem Gesicht geschnitten war. Nun ja, es war Helge. Ich sprach ihm an, und er brauchte ein wenig bis er mich erkannte.
Helge war immer sehr höflich gewesen, von ausgesuchter Höflichkeit, wenn man so will, ein Mann, der der ideale Schwiegermutter-Typ ist. Nun stand er vor mir, und meinte, es würde wohl an meinem Bart liegen, dass er mich nicht sofort wieder erkannt hatte. Andere Menschen hätte wohl andere Attribute meiner Erscheinung als Begründung für das Nicht-Erkennen herangezogen, und die lägen damit so falsch nicht. Aber das mit dem Bart fand ich schon charmant. Ja, was machst Du denn so, fragte ich Helge. Ich studiere Mathe/Physik auf Lehramt. Wow! Das passte irgendwie, denn an Helge war von der früheren Förmlichkeit kein Stück mehr zu sehen, das Kapuzen-Shirt war ein Indiz gewesen, was mich hätte beinahe an ihm vorbeilaufen lassen, nach dem Motto: »Kann er nicht sein, er hat ja gar keinen Schlips und überhaupt sieht er aus wie ein Student – oder wie ich zu Hause rumrenne.« Er war viel lockerer und gelöster, erzählte mir, dass er ein paar Jahre eine Web-Agentur betrieben hätte, Geld gespart hätte und nun studieren würde – gerade erst hat er sein erstes Praktikum hinter sich gebracht und es wäre total toll gelaufen.
Ich sag mal so: Wir sind im gleichen Alter und er hat noch sieben Semester vor sich. Der Mann hat meinen Respekt! Außerdem bin ich immer noch ganz hin und weg, dass ich ihn getroffen habe, denn wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Ich hätte ihn das gleich mal ausrechnen lassen sollen, er studiert ja schließlich Mathematik. Eine verpasste Gelegenheit bei diesem Zufall, aber was soll’s – so wichtig ist das nun auch wieder nicht.
Zusammengefasst: Früher war Helge auf keinen Fall cool. Wie das jetzt aussieht, vermag ich nicht zu sagen – ich kenne ja seinen Unterricht nicht. Aber die Chancen sind auf jeden Fall gestiegen.
Andere unverhoffte Ereignisse in den letzten anderthalb Wochen:
Die Medien berichten, dass die Aschewolke den gesamten Flugverkehr in Europa lahmlegt und in Deutschland mal sowieso. Ich gebe das einem Kunden schon am Vortag auf den Weg und teile ihm mit, dass ich später komme, und rufe ihn dann am Montag an, um meine exakte nachmittägliche Ankunft anzukündigen und bekomme zu hören: »Eigentlich hatten wir sie zu neun Uhr erwartet.« Ich will da gar nicht selbst drüber urteilen, sondern lasse einen Kollegen urteilen: »Das ist auch ohne Aschewolke eine Unverschämtheit.«
Normalerweise bekommen wir Kaffee beim Kunden oder ein Mineralwasser. Letzte Woche wurden mir vier Euro vom Kunden in die Hand gedrückt und gesagt, ich könnte mich am Kaffeeautomaten selbst bedienen. Irgendwie nett: Das hat meinen Spesensatz aufgepolstert, da ich ja kein Koffeinjunkie bin.
Und dann war da noch eine absolut verrückte Diskussion von zwei Kunden-Kollegen untereinander, der ich als eine Art Schiedsrichter bewohnte, und die anderthalb Stunden dauerte. Keiner von den beiden war gewillt, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen und das Wort »Kompromiss« hatte noch keinen Eingang in den Wortschatz genommen, zumindest nicht in der Form, wie man sich das normalerweise vorstellt. O-Ton: »Das ist kein Kompromiss, das ist ja nicht so wie ich das will.« Ich habe am Wochenende gar nicht geschaut, ob ich über diese Veranstaltung ein paar mehr graue Haare bekommen habe. Vorstellen könnte ich es mir schon.