Sag über die Toten nichts Schlechtes. So heißt es. Wenn es einen Menschen gibt, zudem mir noch nicht einmal etwas Negatives, Störendes oder Nervendes einfällt, so ist es mein Onkel Reinhold. Ich sehe ihn vor mir, wie er leicht eingesunken, nachdenklich dasitzt, um dann mit einem Lächeln eine Frage zu stellen. Immer echtes Interesse, immer liebenswert, immer charmant. Ein Mann, der es verdient gehabt hätte, vom Glück abgeknutscht zu werden.
Das Leben ist nicht gerecht. Es so, wie es ist. Und gute Menschen ziehen in diesen Leben subjektiv häufiger den schwarzen Peter und müssen sich so durchwurschteln. So also Onkel Reinhold, der in der Nacht von Freitag auf Sonnabend einschlief, wie man es nennt. Er sollte nicht mehr künstlich ernährt werden, eine schwierige aber wohl weise Entscheidung. Meine Mutter meinte schon vorher, er wäre nur noch Haut und Knochen, würde nicht mehr reagieren, wenn man ihn ansprechen würde. Ein trauriges Bild.
Die letzten Jahre kämpfte er mit diversen Altersgebrechen, auf Familienveranstaltungen sah man ihn schon früher selten und wenn nur kurz. In der letzten Zeit überhaupt nicht mehr. Sein 80. Geburtstag, den er im Mai diesen Jahres beging, wurde nicht mal mehr im kleinen Kreis gefeiert. Da lag er schon in einem Pflegeheim und war nur noch leidlich ansprechbar.
Wenn ich ehrlich bin, dann kann ich mich an keinen einzigen Geburtstag erinnern, den er feierte. Es ging einfach nicht. Meine Tante war und ist eine kranke Frau, an großen Trubel war und ist da nicht zu denken. Wer hätte gedacht, dass der Mann, der sich Jahrzehnte seines Lebens, um um seine Frau kümmerte, von seiner Frau überlebt wurde? (Nein, hier wird nicht gewettet.)
Wann habe ich meinen Onkel gesehen? Zu Geburtstagen. Schnell kam er auf einen Sprung vorbei, um zu gratulieren. Nie konnte er lange bleiben. Er saß im Sessel immer so, als müsste er gleich wieder los. Und etwas anderes wollte er durch seine Körpersprache wohl auch nicht zum Ausdruck bringen. Eine Tasse Kaffee und dann ging es wieder ab zur Frau, die schon auf ihn wartete.
Onkel Reinhold arbeitete bei der Armee. Nicht West-Fernsehen gucken zu dürfen, war sicher noch das geringste Übel. Seine Schwester nicht sehen zu dürfen, die hin und wieder vorbeischaute, war sicher noch viel ärgerlicher. Was heißt eigentlich sehen? Nicht hören, nicht sprechen, nicht schreiben… Kontaktsperre.
War meine Tante mal in Potsdam, hinterließ sie immer ein paar Mitbringsel, die er sich später dann bei meinen Eltern abholte. So auch Weihnachten. Dankesworte, die von meinem Vater an die Schwester übermittelt wurden.
Dann der Krebs: Schon in den achtziger Jahren erwischte es ihn. Ständig in Krankenhäusern, ständig auf Therapie. Er sah so schlecht aus, wie es ihm ging. Und wovon sprach er? Von den armen Kerlen, die mit ihm therapiert wurden. Und seiner Frau, die so krank war.
Die Wende erwischte ihn mit 61. Einen Offizier der NVA – kein gutes Alter für einen Offizier, wenn man dann auch noch auf der falschen Seite stand. Er arbeitete später beim Wachschutz, als Rentner, um sein Einkommen aufzubessern. Mit den unmöglichsten Arbeitszeiten zu den in der Branche üblichen Stundensätzen. Man kann sich gewiss vorstellen, dass er nicht auf der Seite der Wende-Gewinner stand.
Das letzte Mal sah ich ihn nach meiner Erinnerung vor ein paar Jahren. Seine Schwester war im Krankenhaus und wir besuchten sie. Im Krankenzimmer traf ich meinen Onkel und er war sichtlich froh, eine Frage nicht mehr stellen zu müssen: Hast Du schon eine Frau? In seinen Augen war aber eine andere Frage: Wann kommen denn die Kinder?
Vielleicht war mein Onkel ja glücklich. Selbst wenn er es war, er hätte noch mehr Glück verdient.