Terra Gallus

Plattenbaukind

Waren die Winter mal ein wenig härter, uns hat’s nicht gestört. Wir hatten ja Zentralheizung. Die Kosten? Waren in der Miete mit drin, so wie Warmwasser. So war das in der DDR, so haben wir in unseren Plattenbauten gelebt. Besonders viel Platz hatten wir nicht, na gut, aber man freut sich ja auch darüber, wenn es warm ist. Dass das nicht überall so war, versteht sich und auch Plattenbau war nicht Plattenbau.

Mittlerweile leben meine Eltern seit 1973 in der gleichen Wohnung und sie machen auch keine Anstalten, aus ihr auszuziehen. Mein Vater meint immer, der einzige Umzug, den sie noch vor sich hätten, wäre der in die Heinrich-Mann-Allee (in Potsdam). Ein Insiderwitz, keine Frage. Er könnte auch die Straßenbahnhaltestelle nennen, dann wäre es für Auswärtige wie meine Frau leichter: Friedhof. Darüber macht man ja keine Scherze.

Da nicht alle Wohnungen Plattenbau waren, kann man diesen Vorteil der DDR nicht verallgemeinern. Meine Großeltern mütterlicherseits hatten erst eine Toilette eine halbe Treppe nach unten, von einer festinstallierten Badewanne mal ganz zu schweigen. Geheizt wurde mit Kohlen, die hoch zu schleppen, sicher kein Vergnügen war. Nur mein junges Alter ersparte mir diese Arbeit. Aber ich fand’s immer toll an dem Ofen. Solche Beschaulichkeit mag man aber nur bei anderen, nicht in der eigenen Wohnung. Später wurde es dann auch für meine Großeltern besser: Sie hatten ein Bad und eine Toilette für sich allein. Immer noch mit Kohlen, aber schon ein Fortschritt.

Bei der Großmutter väterlicherseits sah es nicht viel besser aus. Womit ich elegant den Wechsel von der Verwandtschaft mütterlicherseits zu der väterlicherseits geschafft habe.

Ich bin mit Cousins und Cousinen nicht so sonderlich reich gesegnet. Eine Cousine mütterlicherseits, zwei Cousinen väterlicherseits und einen Cousin, der sich konkurrenzlos mit dem Titel »Bester Cousin von Welt« schmücken darf. Bei vier Geschwistern, die mein Vater hat, ist das eine magere Ausbeute. Aber wer bin ich, selbst nachkommenlos, dass ich hier über die Produktivität anderer richte? Die Cousins und Cousinen stammen allesamt von einer Tante namens Anni und einem Onkel namens Adolf.

Anni ist ein schöner Name, so schön, dass wir gern unsere Tanten (ich habe gleich zwei mit diesem Namen) rufen und es auch keine Proteste bei mir hervor rief, als eine ehemalige Kollegin mit diesem Namen versehen wurde, wo doch ihr Ausgangsname schon recht nett ist. Mit »Adolf« hatte ich als Name früher mehr Probleme. Wie konnte man, habe ich mich gefragt, sein Kind Adolf nennen. Das war halt früher. Späer wurde mir schon klar, dass meine Urgroßeltern 1926 nicht wissen konnten, dass es einen großer Führer geben würde, der die Welt so nachhaltig in etwas Schlechtes verwandeln würde. Zumal sie in einem ziemlich hintenliegenden Winkel in Polen lebten.

Dieser Onkel lebte in Langsow in der Nähe von Seelow. Man kann sagen, um dem etwas weltmännischen Charme zu geben, dass das bei Berlin liegt. Näher an der trostlosen Wahrheit liegt aber, dass beide Orte in der Nähe von Frankfurt und damit an der polnischen Grenze liegen. Für einen DDR-Menschen waren die Dimensionen aber etwas anders: Eine Fahrt in das benachtbarte sozialistische Ausland war eine Weltreise und so schien mir die Fahrt in das gar nicht so ferne Langsow (etwa 150 Kilometer) schon wie eine Fernreise.

Langsow ist ein Dorf. Langgestreckt wohl, bestehend aus einem alten und einem neuen Teil, sprich Alt-Langsow und Neu-Langsow. Bei mir lief das unter dem Titel »Urlaub auf dem Bauernhof«, denn mein Onkel Adolf arbeitete bei einer LPG und hatte einiges an Federvieh. Meine Tage bestanden denn darin, zum einen das Federvieh zu ärger, wobei mir der Hund meines Onkels behilflich war. Die Tochter einer Cousine war ebenfalls anwesend, erwies sich aber – sie möge es mir verzeihen – als ziemlich lästig. Da Schweine, Kühe und Pferde nicht anwesend waren, Tiere, die ich von den Bauernhöfen in der Nähe unseres Gartengrundstückes kannte, war es nicht so der große Hit und ich hatte kein Verlangen, einen Urlaub bei meinen Onkel und meiner Tante zu wiederholen.

Prägend dafür war auch ein anderes Erlebnis: Ich wurde am Abend gefragt, ob ich Grütze mochte. Ein Paradies tat sich auf: Sollte es hier wirklich als Hauptgericht schöne süße rote Grütze geben, die vielleicht einen gewissen sauren Geschmack haben konnte? So antwortete ich natürlich, freudig und erregt, ja, gerne. Dass die Grütze, die mir präsentiert wurde, eher an Topfwurst erinnerte (ohne Topf- oder Blutwurst zu sein), war schon eine herbe Enttäuschung. Zu Hause hätte ich das Gericht zurückgehen lassen, hier jedoch, im Angesicht meines Onkels aß ich auf. Selten habe ich so lange für eine Mahlzeit gebraucht. (Vielleicht das zwangsverordnete Spinatessen von Frau P., die mir dafür heute noch ein Dorn im Auge ist, mal abgesehen.)

Zweites sehr tiefgreifendes Erlebnis waren die gemeinsamen Nächte mit meinem Onkel. Hier ist jetzt kein Skandal zu sehen, sondern es war ein Gebot der Vernunft. Ich konnte schlecht bei der Tante schlafen, dort schlief, zumindest nach meiner Erinnerung auch meine Julianne, die Tochter meiner Cousine. Dass mein Onkel schnarchte muss nicht erwähnt werden, ich bin der festen Überzeugung alle Hähne schnarchen. Ganz anders sah es jedoch mit der Unterkunft aus. Waren es die Herbst- oder die Frühjahrsferien, das kann ich gar nicht genau sagen, aber es war kalt. Das Zimmer lag unter dem Dach und es war so kalt, da nicht oder nur minimal geheizt wurde. Dagegen half nur das dicke Federbett, in das man sich einmummeln konnte. Solche Federbetten habe ich seit Jahre nicht mehr, sie sind aber für mich der Inbegriff von Gemütlichkeit im Bett. Man kann sich in sie wunderbar einmummeln. Die gleichen Erinnerungen habe ich an Übernachtungen bei meiner Oma, dort gehörte das Einmummeln in das Federbett zum Programm. Zuhause in Potsdam hatten wir auch Federbetten, aber bei einer Zentralheizung hat das Federbett nicht mehr die Bedeutung. In Langsow konnte man gar nicht ohne sie, hat man den kleinen Zeh unter dem Bett hervorgesteckt, so drohte dem der sofortige Tod durch Erfrieren. Gott, war das ein harten Ferienleben!

Ich glaube nicht, dass ich in den Ferien damals große Gespräche mit meinem Onkel geführt habe. Das kam erst später. Bei Familienfeiern bei meinen Eltern zogen sich die Jungen – meist meine Schwester und meine Wenigkeit – in ein separates Zimmer zurück. Dort bekamen wir hin und wieder Besuch, auch von unserem Onkel Adolf. Diese Gespräche sind mir gut und angenehm in Erinnerung. Vielleicht mussten wir erst erwachsen werden, um miteinander reden zu können. Aber die Gelegenheit wurden immer weniger.

Habe ich ihm zum Geburtstag gratuliert, vorausgesetzt ich dachte daran, so waren das die kürzesten Telefongespräche, die man führen konnte. Schneller war nur die Zeitansage der Telekom abgehandelt (in der DDR hatten wir ja keine Telekom, sondern nur allgemein eine Post, aber die Zeitansage habe ich immer gern angerufen, einfach nur so. Ich weiß aber nicht, ob das ein kostentreibender Faktor in der Telefonrechnung meiner Eltern gewesen war). Man gratulierte, fragte, ob es gut ging, bekam zur Antwort ja, und damit war das Gespräch auch schon fast zu Ende. Manchmal waren es weniger als 30 Sekunden gewesen. Es mochte die zunehmenden Schwerhörigkeit geschuldet sein, aber es war vor zehn Jahre nicht viel anders.

Wir hatten uns immer vorgenommen, Onkel Adolf und seine Frau Anni zu besuchen. Geschafft haben wir es nie, oder etwas härter ausgedrückt: Wir haben uns nie die Zeit genommen. Am 19. Februar ist mein Onkel Adolf im Alter von 80 Jahren gestorben. Gestern haben wir ihn beigesetzt.

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